Blog: Demokratie im Stresstest: Die Europäische Union vor den Wahlen - Hoofdinhoud
Europa-Rede bei der Bertelsmann Stiftung in Berlin, 28 Januar 2019
Herr Vorstandsvorsitzender, lieber Herr De Guys,
Exzellenzen, hochverehrte Frau Rita Süßmut,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Ich will heute einen Ausblick wagen - nicht nur auf 2019, sondern auch einen langfristigen auf die nächsten Jahrzehnte, und ausführen wie wir die Herausforderungen meistern können und welche Rolle Europa darin einnehmen sollte.
(Wirtschaftlicher Ausblick: Eintrübung nach guten Jahren)
Doch zunächst zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Das Wirtschaftswachstum trübt sich ein. In Deutschland haben wir ein Wirtschaftswachstum von 1,0 Prozent statt 2 Prozent. Eine ähnliche Situation haben wir in vielen europäischen Ländern, ja sogar weltweit. Damit liegen die wirtschaftlich besseren sechs Jahre bereits hinter uns. Es gab Jahr für Jahr mehr Wachstum als nach der Krise vorhergesehen. Jahr für Jahr waren die Steuereinnahmen höher als nach der Krise prognostiziert. Jahr für Jahr gab es in den meisten europäischen Regionen mehr Arbeitsplätze, sinkende Arbeitslosigkeit und sinkende Jugendarbeitslosigkeit. Wir haben Regionen, in denen Vollbeschäftigung besteht, Fachkräftemangel im Mittelpunkt steht und nicht mehr die Vermittlung von Arbeitsplätzen und Arbeitslosen in die Arbeitswelt.
(Politische Risiken: Brexit und Handelskriege)
Wenn wir auf die politische Tagesordnung schauen, dann beginnt fast jeder Punkt mit dem Wort ‚hoffentlich‘:
Wenn man von dieser Tagesordnung ausgeht, dann muss noch gar nicht eine mögliche Kriegsgefahr in Idlib oder ein Angriff auf die Kurden in Syrien durch die Türkei, oder aber vielleicht doch die Landnahme Mariupol in Richtung Krim durch russische oder den Russen näherstehende Militärs ein weiterer Teil eines kumulativen und schwierigen Gesamtbildes 2019 sein.
Die Europäische Wahl Ende Mai kommt als ein demokratisches Highlight ergänzend hinzu.
(Wettbewerb von Werteordnungen oder Kampf von Systemen)
Im Grunde genommen erleben wir derzeit einen Wettbewerb von Werteordnungen. Man könnte auch sagen: einen Kampf von Systemen. Wir, Sie und ich sind nach dem zweiten Weltkrieg, von Deutschen begonnen, verschuldet und verloren, geboren worden. Wir wurden von Amerikanern, Briten und Franzosen, unseren Lehrern und Eltern nach Werten erzogen, die so auch im Grundgesetz stehen. Und sie stehen auch im Vertrag von Lissabon. Es ist eine Werteordnung mit einer parlamentarischen Demokratie, mit sozialer Marktwirtschaft, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit von Gerichten - und der dritten Gewalt - mit Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, mit Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit. Dazu gehört auch eine liberale Gesellschaft und ein primär jüdisch-christliches geprägtes Menschenbild. Es herrscht Toleranz dem Anderen gegenüber. Man nimmt jeden Menschen an, unabhängig von Hautfarbe, Rasse, Religion, Einstellung oder politische Ausrichtung. Bis hin zur Nächstenliebe praktizieren wir dies. So wurden wir erzogen, so wurden wir groß, so werden wir alt, so erziehen wir unsere Kinder. Entlang dieser Werteordnung, die am Rhein gegründet wurde und entlang der Donau bis zum schwarzen Meer exportiert wurde, waren wir lange erfolgreich unterwegs.
Jetzt erleben wir, dass es auch andere Ordnungen und Unordnungen gibt:
(Für unsere europäische Werteordnung kämpfen)
Wenn uns unsere europäische Werteordnung - und ich sage hier bewusst nicht überlegen, aber erhaltenswert erscheint - wenn wir diese Werteordnung für uns, unsere Kinder und Enkelkinder in Berlin, Brüssel und Europa insgesamt weiter als die Grundlage unseres täglichen Lebens erhalten wollen, mit parlamentarischer Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit von Gerichten, Meinungs-, Presse-, Glaubens- und Religionsfreiheit, einer liberale Gesellschaft voll von Freiheit und Freizügigkeit, dann müssen wir dafür aktiv eintreten. Wir brauchen ein Team und müssen besser wahrnehmbar und stärker überzeugend sein. Dies geht in einem europäischen Wahljahr besser, es ist in diesem Jahr wichtiger als jemals zuvor.
(Mehr Europa, wo wir gemeinsam effizienter sind)
Ich werde oft gefragt, ob wir mehr oder weniger Europa brauchen. Ich glaube, wir sollten die Kernkompetenzordnung so aufbauen, dass jede Ebene das macht, was sie am besten kann und dass die jeweils höhere Ebene immer erst den Nachweis erbringen muss, dass sie es besser kann. Wenn sie aber effizienter ist, dann sollte auch die höhere Ebene dafür verantwortlich sein - also die kommunale Ebene, die regionale Ebene, die nationale Ebene und die europäische Ebene.
(Die Stärken Europas: Friedensunion auf Westbalkan ausdehnen)
Europa war, ist und bleibt zuallererst die Friedensunion. Mein Ausblick für das nächste Jahrzehnt lautet: Wenn wir den Frieden auf den Westbalkan exportieren wollen, dann ist die Erweiterung im nächsten Jahrzehnt von bis zu sechs Westbalkanländern die logische Schlussfolgerung. Darauf sind Sie nicht vorbereitet und darauf bereiten wir Sie auch nicht vor. Das Ganze ist noch immer ein Tabu. Diese Länder sind Serbien, Albanien, Nord-Mazedonien - mit der schönen Entwicklung des neuen Namens und in Athen der entsprechenden Mehrheit dafür - Montenegro, Kosovo, Bosnien-Herzegowina. Diese Länder tun derzeit alles, Kapitel für Kapitel, um die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu erbringen. Sie halten sich an unsere Werteordnung. Sie verändern nicht mehr Grenzen mit Waffengewalt. Sie führen keine Religionskriege mehr, wie es zwischen 1991 und 2001, d.h. noch vor wenigen Jahren der Fall gewesen war. Damals sind hunderttausende Flüchtlinge zu uns gekommen. Aber sie brauchen von uns eines: eine glaubwürdige Beitrittsperspektive. Und die Frage, die Ihnen heute stellen will, ist: Wollen wir die Serben eigentlich?
Wenn wir nicht als Bürger, als Wähler und als Steuerzahler zu einer Aufnahme dieser Länder bereit sind, dann werden sie sich von Brüssel abwenden und Moskau oder Ankara zuwenden. Sie werden Panzer importieren, Religionskriege führen und Grenzen mit Waffengewalt verschieben. Sollte dieses Szenario eintreten, müsste man feststellen, dass wir aus der jüngsten Zeitgeschichte nichts gelernt haben. Natürlich sind Beitritte ein Geschenk. Aber das erste Geschenk, das Europa gemacht hat, wurde Deutschland gemacht - von Schuman und Monet. Im Jahr 1950 stellten sie die Überlegungen zur Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, an. Es ging dabei um den Wiederaufbau und die Sicherstellung des Bedarfs an Energie und Rohstoffen von Industrie, Wohnungswesen und Infrastruktur. Ich frage Sie in aller Deutlichkeit: Hatten wir Deutsche, damals fünf Jahre nach dem Krieg, der von uns selbst verschuldet war, dies verdient? Nie und nimmer! Mit Frankreich hatte es auch davor schon öfter Kriege gegeben - ich erinnere an Napoleon, Bismarck usw. Aber Belgien, Luxemburg und die Niederlande waren immer neutral und friedliebende Nachbarn gewesen. Wir überfielen sie im ersten Weltkrieg und im zweiten Weltkrieg. Wir haben Leuven zerstört. Der Vater von Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker musste mit den Deutschen in den Krieg gegen Paris ziehen. Und fünf Jahre nach dem von uns allein verantworteten, schlimmsten Krieg aller Zeiten, durften wir Gründungsmitglied des europäischen Projekts werden. Was für ein Glück, was für ein Gottesgeschenk auf dem das deutsche Wirtschaftswunder mit aufgebaut worden ist! Und so wie uns damals ein Geschenk gemacht wurde, können wir heute Geschenke machen. Stichwort: Westbalkan und Friedenssicherung, die Friedensunion auf den ganzen Kontinent ausweiten.
(Zweite Stärke: Europa muss weiterhin Werte exportieren)
Zweitens haben wir Werte exportiert. Vielleicht war die Aufnahme von 13 Ländern im letzten Jahrzehnt ein bisschen früh - ja vielleicht. Aber die Fenster der Geschichte öffnen sich und sie schließen sich auch schnell wieder. Vielleicht war auch der 10-Punkte Plan nach dem Fall der Mauer von Helmut Kohl und das Angebot des Umtauschs der Ostmark in D-Mark zum Verhältnis 1:1 nationalökonomisch angreifbar, ja vielleicht. Aber die Fenster der Geschichte, sie öffnen sich und sie schließen sich. Hätte nicht Helmut Kohl damals dieses entschiedene Angebot gemacht, das dann von Gorbatschow sowie von Bush dem älterem, von Thatcher und Mitterand kritisch beäugt und von Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Schäuble, Theo Weigel, Willy Brand unterstützt sowie von Lafontaine bekämpft wurde, die deutsche Einheit wäre nicht so gekommen, wie es zum Glück für Berlin, Deutschland und Europa vor bald 30 Jahren gekommen ist. Helmut Kohl hat ein Zeitfenster erkannt und genutzt. Und wäre die Slowakei, die Tschechische Republik, Slowenien, Ungarn, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Zypern, Bulgarien, Rumänien, jüngst Kroatien nicht Teil der europäischen Familie, einige dieser Länder wären genauso hilflose Schilfrohre im aggressiven Wind von Putin, wie es leider Armenien, Georgien, Moldawien, Weißrussland und die Ukraine sind. Wir haben Werte, die Sicherheit und den Frieden exportiert und darauf werden unsere Kinder einmal schauen. Ob wir nicht nur den Frieden übernommen, sondern auch Frieden für die Zukunft gesichert haben. Über
Europa als die Friedensunion und die Wertegemeinschaft wird in Deutschland viel zu wenig gesprochen. Das Ganze ist längst nicht auf Dauer garantiert.
(Dritte Stärke: Mehrwert Binnenmarkt und Außenhandel)
Drittens, die ökonomische Errungenschaft der Europäischen Union ist der Binnenmarkt. Er umfasst 28 Länder, sowie die Schweiz, den Westbalkan, Norwegen und Island, auch Liechtenstein ist assoziiert. Mit 550 Millionen Menschen ist dies noch immer der wichtigste Marktplatz der Welt. Hier werden Standards gesetzt. Es gibt nur eine Inhaltsangabe für Produkte. Sie müssen nur einmal lizensiert werden und können dann ohne Protektionismus und Zölle in der ganzen EU verkauft werden. Ein gutes Beispiel sind Autos. In Deutschland stellen wir viel mehr Autos her, als wir selbst brauchen. Wir stellen auch in der pharmazeutischen Industrie viel mehr Pillen her, als wir schlucken. Für das Exportland Deutschland ist daher der Binnenmarkt die Grundlage für seinen Erfolg.
Sie finden heute in Geschäften eine Vielfalt an Waren und Gütern, wie beispielsweise Käse, Wein, Autos, Kleidung und Musik, wie es niemand vor uns gehabt hat und wie es auf der ganzen Welt nirgendwo in dieser Vielfalt, in Qualität und Quantität, gibt, wie wir sie bei uns im Schaufenster jeden Tag sehen.
Zusätzlich zum Binnenmarkt kommt der Welthandel. Wenn man einen gemeinsamen Binnenmarkt hat, muss die Handelskompetenz eine europäische Kompetenz sein. Und wir waren nie so gefragt wie heute. Die USA haben sich weitgehend aus der multilateralen Handelsordnung verabschiedet und meine Kollegin, die Handelskommissarin Malmström, und die Kommission - sind nunmehr in allen Regionen der Welt gefragt. Es gibt Partner, die wollen soziale Marktwirtschaft, die wollen Demokratie, die wollen Welthandel, die wollen Offenheit. Kanada ist so ein Beispiel, oder in diesen Tagen, die von uns geführten Verhandlungen mit Japan, Singapur, Neuseeland, Australien, Vietnam, Mexiko, Chile und dem Mercosur. Wir können derzeit unsere rechtlichen Grundlagen, unsere Kultur für den Export, den Import, den Investitionsschutz auch für den Klima- und den Umweltschutz, gegen den Einsatz von Kinderarbeit durch Handelsabkommen und in den wirtschaftlichen Beziehungen sicherstellen. Deswegen ist hier ein großer Mehrwert Europas gegeben. Der Binnenmarkt ist ein Mehrwert nach innen und gemeinsamer Handelsauftritt ist ein Mehrwert nach außen, gegenüber der Welt.
Präsident Trump macht mit dem Dollar Politik. Die Leitwährung wird ganz gezielt als Druckmittel eingesetzt. Hätten wir nicht den Binnenmarkt und den Euro, sondern die Deutsche Mark, wie von einigen Parteien vorgeschlagen wird - und hier frage ich Sie: Warum nicht gleich zurück zum Taler und Gulden? Der Euroraum ist zwar noch nicht vollendet, aber der Möglichkeit der chinesischen Währung als zweite Leitwährung stehen wir derzeit mit 19 Staaten gegenüber, Bulgarien, Kroatien und andere Länder werden folgen. Wir sollten deshalb alles dafür tun, damit der Euro unsere ökonomische und politische Souveränität stärkt, alles andere wäre ein Irrweg und würde Deutschland mehr als Malta, Lettland oder andere schwächen.
(Europa Kontinent der Freiheit und Freizügigkeit)
Viertens, Europa ist der Kontinent der Freiheit und der Freizügigkeit. Mit 19 Jahren habe ich eine Reise von Tübingen nach Straßburg gemacht, damals noch mit Mittelscheitel und schulterlangem Haar. Wir wurden jeweils eine halbe Stunde in Kehl und in Straßburg kontrolliert - Innenraum, Motorraum, Kofferraum, Pässe gezeigt, wir hatten sogar Reiseschecks dabei. Und heute fährt die Stadtbahn im Acht-Minuten-Takt vom Rathaus Kehl nach Straßburg. Was für ein Unterschied!
Meine europäische Lieblingsstadt ist das an der Neiße gelegene Görlitz. Es hat einmal zu Karl IV. und Böhmen gehört, dann zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Neiße zum kalten Trennungsfluss: Das westliche Görlitz gehörte zum Bezirk Dresden der DDR und das östliche Görlitz war Teil vom polnischen Schlesien. Zwischen östlichem und westlichem Görlitz gab es keinerlei Austausch oder Möglichkeit zur Mobilität. Polen und Deutschland sind heute in der Europäischen Union vereint. Die Neiße wurde damit zur Lebensader, die Stadt wächst zusammen, es werden Brücken gebaut, das alltägliche Leben, Sport, Arbeit, Wohnen, Schule, Altwerden, gepflegt werden, Freundschaften, das alles spielt sich über die alten Grenzen hinweg ab. Europa ist der Kontinent der Freiheit und Freizügigkeit. Gerade deshalb sollten wir alles dafür tun, dass Binnengrenzen nicht auf Dauer kontrolliert werden. Ich bin auch nur eingeschränkt davon überzeugt, dass der Zaun zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein die Schweinepest verhindern kann.
Wenn wir dauerhaft die Grenze zwischen Salzburg und Bayern durch Zollbeamte von Horst Seehofer kontrollieren, und diese wiederum von Zollbeamten von Markus Söder kontrolliert werden, entsteht ein großer Schaden für die Wirtschaft, etwa für Just-in-time-Lieferungen von Magna zu BMW in Dingolfing. Stattdessen sollten wir unsere Außengrenzen wirksam schützen, damit wir wissen, wer zu uns will und diejenigen rechtsstaatlich prüfen und registrieren. Im Inneren scheint mir hingegen die Freizügigkeit der richtige Weg und die Lehre aus der Geschichte für mehr Lebensqualität, Mobilität, und Freiheit für Menschen in ganz Europa zu sein. Eine vergleichbare Freizügigkeit gibt es auf keinem anderen Kontinent.
(Wettbewerbsfähigkeit: Europa darf nicht zu Freilichtmuseum werden)
Fünftens, europäische Wettbewerbsfähigkeit. Wir laufen Gefahr, dass wir auf Dauer nicht innovativ genug, nicht stark genug in Forschung und Entwicklung sowie schnell genug in neuen Technologien sind. Wir liegen auch in der digitalen Revolution weit hinten. Europa darf nicht das Freilichtmuseum der Welt von morgen werden - nach dem Motto „Heidelberg, Berlin Mitte, so war es einmal“. Gleichzeitig gibt es einige neue Felder, in denen ein klarer Mehrwert europäischer Zusammenarbeit besteht, wie beispielsweise Robotik, Sensorik, Photonik, Mikro- und Nanoelektronik, Hochleistungsrechnen (high-performance computing) oder künstliche Intelligenz.
Kein Unternehmen, weder Philips, Schneider Electric, noch Siemens oder Bosch, ist von Humanressourcen, Ingenieure und IT-Spezialisten, oder von Geldressourcen her stark genug, um alleine mit Google, Amazon, Facebook oder Microsoft im Silicon Valley zu konkurrieren. Aber genau diese Entwicklung aus Kalifornien wird in China eins zu eins kopiert, mit Unternehmen wie Tencent, Huawei oder Alibaba.
Man braucht in der digitalen Revolution entweder genügend Nutzer oder genügend Geld. Die Chinesen haben mit 1300 Millionen potentiellen Nutzern uns gegenüber einen Vorteil. Die drei Milliarden Euro, die die Bundesregierung nun mühsam für künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren freigeschaufelt hat, sind zu wenig, 30 Milliarden Euro wären eher angebracht. Genau dies könnte jedoch Europa durch Programme wie Horizon Europe, sowie der Zuführung von Mitteln aus den Mitgliedstaaten und der forschenden Industrie in Joint Undertakings und klugen Public-Private-Partnerships leisten. Nur in europäischen Forschungsteams können wir mit der Forschung und Entwicklung vom Pentagon unterstützter Industrien in Kalifornien, sowie mit der Dynamik und dem unbedingten Willen Chinas in Wettbewerb treten. Hierfür sind weiterhin die ETH Zürich und Basel, aber auch die Exzellenz aus Oxford, Cambridge und London notwendig - auch hier ein klarer Grund für die Notwendigkeit eines klugen Brexit. Ein europäisches Team wäre ein Win-Win für das Vereinigte Königreich und für die gesamte EU.
(Brüssel transparenter als Berlin )
Wir werden oftmals gefragt, wie es in Brüssel abläuft. An dieser Stelle will ich Sie einladen, nach jedem Aufenthalt in Berlin auch in die europäische Hauptstadt zu fliegen. Denn jeder von uns hat drei Hauptstädte: erstens München, Stuttgart, Düsseldorf, Wiesbaden, Mainz, Saarbrücken, zweitens Berlin und drittens Brüssel.
In Brüssel werden Sie erleben, dass Abgeordnete, Beamte, Kommissare und Kabinette transparent arbeiten. Brüssel ist transparenter als Berlin. Beispielsweise wird der Wochenplan von Kommissaren veröffentlicht, der von Ministern in Deutschland hingegen nur sehr eingeschränkt.
Ein weiterer Punkt ist der nicht auszuräumende Vorwurf, die EU hätte nicht genügend demokratische Legitimation. Der „europäische Bundestag“ ist das Europäische Parlament in Straßburg und Brüssel. Das Parlament wird in direkten Wahlen gewählt, zum nächsten Mal Ende Mai, wo Sie eine große Auswahl zwischen Parteien, Listen und Kandidaten haben. Der Rat ist im Grunde genommen die zweite Kammer, der „europäische Bundesrat“. In diesem sitzen die Mitgliedsstaaten, so wie die 16 Länder im Bundesrat sitzen. Hinzu kommt der Europäische Rat, der die Richtlinienkompetenz der Staats- und Regierungschef bündelt. Die Europäische Kommission ist die Geschäftsführung, man könnte sogar sagen die Regierung Europas, die operativ für die Tagesarbeit, genauso wie für Gesetzgebungsvorschläge und den Haushaltsvollzug, verantwortlich ist.
(EU Kommissare demokratisch legitimiert)
Es wird oft gesagt, die Kommissare seien nicht gewählt. Meine Gegenfrage lautet: Wissen Sie, wie man Minister in Berlin werden kann? Beim letzten Mal waren sich die drei Parteivorsitzenden - Martin Schulz, Horst Seehofer und Kanzlerin Angela Merkel nach einer langen Nacht, morgens um sieben Uhr einig, welche Partei, welches Ministerium bekommt. Der Parteivorsitzende hat dann entschieden, wer Minister wird und die Liste der Minister der drei Parteien ging daraufhin zum Bundespräsidenten. Danach kam die Vereidigung. Der Bundestag wurde gar nicht gefragt, kein Bundestagskollege hat jemals über die Minister abgestimmt. Demgegenüber werden Kommissarsanwärter von einer demokratischen Regierung vorgeschlagen. So wurde beispielsweise der ehemalige Kommissar Günther Verheugen von Rot-Grün und ich zuerst von CDU-CSU-FDP und später von CDU-CSU-SPD vorgeschlagen und somit indirekt demokratisch ausgesucht. Darüber hinaus war ich bereits drei Mal für eine Anhörung im jeweiligen zuständigen Fachausschuss im Parlament, um drei Stunden lang Rede und Antwort zu stehen. Nicht jeder Kommissarsanwärter kommt durch, einige werden zurückgewiesen. Am Ende stimmen das Europäische Parlament und der Rat über die Gesamtkommission ab. Im Vergleich zu Bundesministern haben wir also weit mehr demokratische Hürden und Legitimation. Ich weise deswegen den Vorwurf zurück, dass wir nicht demokratisch legitimiert sein.
Wir sollten dafür sorgen, dass Europa objektiv dargestellt wird und dass kommuniziert wird, dass Europa viel, auch wenn vielleicht noch nicht ausreichend, demokratische Legitimation hat.
Deswegen wurden auch die Spitzenkandidaten eingeführt. Denn Politik bedarf der Verkörperung. Beim letzten Mal hat man dies im Fernsehduell zwischen Jean-Claude Juncker und Martin Schulz erlebt. Dieses Mal kandidieren der Niederländern Frans Timmermans für die S&D, der Niederbayer Manfred Weber für die CSU, CDU und EVP, und zwei Kandidaten, darunter die deutsche Ska Keller, für die Grünen Europas. Die FDP und die Liberalen wissen noch nicht, ob sie Spitzenkandidaten aufstellen sollen.
(EU Wahl muss so wichtig sein wie Bundestagswahl)
Eine europäische Wahl muss uns genauso wichtig sein, wie eine Bundestagswahl, nicht mehr und nicht weniger wichtig. Das gilt für die Parteien, dafür, wie sie Wahlkampf machen, ihn finanzieren und Veranstaltungen durchführen, für die Kandidaten, für die Wähler und für die Medien.
So bedauerlich der Brexit ist, so schwierig die Lage mit Autokraten in unserem Umfeld ist, und so sehr wir innere Schwächen entdecken, das Gute an diesen Entwicklungen ist, dass den Menschen die Bedeutung europäischer Wahlen klar wird. Mit einer hohen Wahlbeteiligung müssen wir in Zukunft alles dafür tun, dass Europa gestärkt wird und nicht weitere Schwächen auf dem Weg in die Zukunft erleiden muss.
(Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt - Künftiges Druckmittel Haushalt)
Beim Thema Rechtstaatlichkeit ist unsere Handhabe dagegen gering. Rechtsstaatlichkeit ist zwar ein Grundwert in der Europäischen Union, der die Unabhängigkeit von Gerichten, Gerechtigkeit, ein Justizsystem auf hohem Niveau, ohne Willkür und frei von Weisungen aus der Politik garantiert. Genau diese Unabhängigkeit der dritten Gewalt wird derzeit in Polen, Ungarn und in anderer Form in Rumänien in Frage gestellt. Als Europäische Kommission tun wir, was nur möglich ist. Aber die Gründer Europas haben uns als Kommission zwar starke Instrumente zur Hand gegeben, wenn es um die Prüfung von Aufnahmekandidaten geht. Bei den Serben kontrollieren wir Kapitel für Kapitel, ob sie die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft erfüllen. Wenn jedoch ein Land bereits Mitglied des Clubs ist, dann ist die Kommission relativ schwach. Denn das Europa der „Vaterländer“ wollte nicht, dass die Kommission die Regierungen der „Vaterländer “streng kontrollieren, oder sogar Weisungen, Abmahnungen oder Strafen erteilen darf. Aus diesem Grund haben wir in meinem Haushaltsvorschlag für das nächste Jahrzehnt die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit vorgesehen. Erst vor wenigen Tagen hat das Parlament mit Zweidrittelmehrheit hierfür positiv votiert. Wenn ein Mitgliedsstaat die Gerichte beugt, die Unabhängigkeit eingeschränkt wird, den Vorruhestand zur Auswechslung und gegen den Willen des Beamten einführt, wenn Rechtstaatlichkeitsprinzipen verletzt werden, dann sollen wir das Recht bekommen, die Auszahlung von Haushaltsmitteln aus dem europäischen Haushalt zu reduzieren. Dies kann man mit Mehrheit beschließen und ich baue darauf, dass es von Rat und Parlament für den Haushaltsrahmen des nächsten Jahrzehnts angenommen wird. Es ist ein wirksames Instrument, um dafür zu sorgen, dass die Rechtsstaatlichkeit eingehalten oder wiederhergestellt wird. Denn keine Regierung will ihren Bürgern sagen müssen: „Wir kriegen kein Geld mehr aus Brüssel.“.
(2019 - Jahr wichtiger Personalentscheidungen)
2019 ist ein Jahr der Personalentscheidungen. Die gesamte erste Reihe Europas wird in einem Jahr neu aufgestellt sein. Ratspräsident Tusk kann nicht mehr antreten und hört Ende November auf. Kommissionspräsident Juncker hat erklärt, dass er nicht noch einmal antreten wird und wir hören Ende Oktober auf. Von den jetzigen 28 Kommissaren werden, so schätze ich, mindestens 22 nicht wiederkehren. Die meisten, weil die Regierung, die sie vorgeschlagen hat, nicht mehr im Amt ist. Das ist zum Beispiel Moedas für Portugal, Cañete für Spanien, Mogherinifür Italien, Moscovici für Frankreich und Bieńkowska für Polen. Genauso bleibt offen, wer dem Präsidenten der EZB Draghi nachfolgt und wer neuer Präsident des Europäischen Parlaments wird. Außerdem vermute ich, dass über 50 Prozent der Abgeordneten neu sein werden.
Wir müssen beobachten, ob das Parlament ausreichend stabil und proeuropäisch bleibt. Denn zurzeit haben wir die Mehrheit einer sogenannten großen Koalition zwischen EVP und S&D. Umfragen zufolge wird diese jedoch nicht mehr mehrheitsfähig sein. Wir brauchen deshalb Dritte im Bunde, wie ALDE, Macronisten oder Grüne. Außerdem müssen wir vermuten, dass diejenigen, die gegen Europa sind, sich erstmals verbünden. Das sind beispielsweise Salvini, Di Maio, Le Pen, Wilders, Schwedendemokraten, Wahre Finnen, AfD und FPÖ. Sie haben einen einzigen Programmsatz: Zerstöre Europa. Zu mehr Gemeinsamkeit sind sie nicht fähig, aber der eine Programmsatz reicht ihnen aus.
Und deswegen muss Ihnen, muss mir, muss uns allen die Europawahl so wichtig wie eine Bundestagswahl sein, nicht mehr und nicht weniger.
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